Bindung in einer sich wandelnden Arbeitswelt

Emotionale Bekenntnisse zu den Mitarbeitenden

Menschen folgen Menschen. Im Grunde war das schon immer so. Es heißt: „Kandidaten bewerben sich bei Unternehmen und sie kündigen der Führungskraft.“ Natürlich haben die Strahlkraft großer Marken oder die Inspiration einer Unternehmensvision ihre Wirkung. Jeder will gern einen sinnvollen Beitrag leisten und Teil haben an einem wichtigen „Großen Ganzen“. Dennoch: Wenn die Führungskraft über längere Zeit keine Bindung zu den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aufbaut, verlassen diese das Unternehmen.
Spätestens seit MitarbeiterInnen sich die Unternehmen aussuchen können und der Fachkräftemangel signifikante Ausmaße angenommen hat, merken einige Unternehmer auf. Das Wohlbefinden der Mitarbeiter wird zum strategischen Faktor ernannt. Mitarbeiter- Innenbefragungen, die deren Zufriedenheit messen, ergeben regelmäßig drei wesentliche Mängel: unzureichende Wertschätzung, ungenügende Versorgung mit Informationen und zu geringe Möglichkeiten, „nach oben“ zu kommunizieren. Im Grunde lassen sich diese drei Mängel in einer einzigen Aussage zusammenfassen: Es fehlt an Bindung.
In vielen Unternehmen wird das Thema Mitarbeiterbindung eher technisch bearbeitet: Es werden Programme entworfen und Prozesse eingeführt, wie z.B. besondere Karrierepfade, Talentprogramme oder langfristig orientierte Anreizsysteme. Dabei gehen die Hauptimpulse vorwiegend von der Personalabteilung aus. Die so gefundenen Lösungen haben meist eines gemeinsam: Sie liefern externe Gründe für Treue zum Unternehmen. Sie zielen auf extrinsische Motivation. Wer diesen Weg einschlägt, kann in Schwierigkeiten geraten, denn zum einen motivieren externe Faktoren nur sehr gering und zum anderen verlieren sie schnell ihre Wirkung. So bleibt nichts anderes übrig, als das Angebot permanent zu steigern.
Sicherlich ist es nötig und wünschenswert, wenn vernünftige und ansprechende Arbeitsbedingungen geschaffen werden. Und selbstverständlich gilt es, Themen wie Mitarbeitergesundheit und Vereinbarkeit von Beruf und Familie eine hohe Priorität einzuräumen.
Dennoch: In den Augen der MitarbeiterInnen ist das alles selbstverständlich. Unternehmen, die diese Standards nicht erfüllen, werden es zunehmend schwer haben, überhaupt gutes Personal zu halten. Wirkliche Bindung wird so nicht erreicht. Hierzu braucht es menschliche Beziehungen.
Einer Google-Studie („Project Oxygen“) zufolge haben jene Führungskräfte den größten Einfluss auf die MitarbeiterInnenperformance, die sich unter anderem als Coach ihrer MitarbeiterInnen verstehen, authentisch an deren Wohlbefinden und Erfolg interessiert sind (und das auch verbal zum Ausdruck bringen) und die daran interessiert sind, andere zu befähigen.

Führungskraft ist der entscheidende Faktor

Untersuchungen im Bereich des digitalen Recruitings haben gezeigt, dass es die wirkungsvollste Ansprache von Kandidaten ist, wenn sich anstelle der Personalabteilung die zukünftige Führungskraft persönlich (zum Beispiel in einem Videoclip) um diese Mitarbeiterin/diesen Mitarbeiter bewirbt. Dabei kommt denjenigen Aussagen die größte Bedeutung zu, die beschreiben, was die Führungskraft für die Mitarbeiterin/den Mitarbeiter tun wird. Führung als Dienstleistungsangebot – an sich ein längst bekannter Gedanke.
Je mehr geforscht wird, desto klarer zeichnet sich das Bild: Es kommt auf die unmittelbare Führungskraft an. Das Verhältnis zum direkten Vorgesetzten hat den größten Einfluss auf die Zufriedenheit der MitarbeiterInnen. Wer Mitarbeiterbindung erzeugen will, muss zunächst verstehen, was im Kern die Bindung erzeugt, und im zweiten Schritt sicherstellen, dass die handelnden Personen – nämlich die unmittelbaren Führungskräfte – befähigt werden, genau diese Kriterien zu bieten.
Tatsächlich verhält es sich in der Arbeitswelt nicht wesentlich anders als in der Kindheit oder im sozialen Zusammenleben generell: Bindung wird nicht zu Systemen oder Organisationen erzeugt, sondern zu Menschen oder Menschengruppen.

  • Als Erstes entsteht Sicherheit in der Bezogenheit auf einen anderen Menschen, der idealerweise ausreichend Einfluss hat, das Umfeld zu gestalten. Dieser Mechanismus wird schon in der Kindheit angelegt: Die Möglichkeit der Nähe schafft dabei die Möglichkeit der Distanz. Die von vielen Unternehmern geforderte eigenständige Arbeitsleistung des Mitarbeiters (= Distanz) bedingt die Verbundenheit zu einer zentralen Person (= Nähe). Eine solche sichere Bindung führt nachweislich zusätzlich zu Stressabbau.
    Die Bezogenheit kann sich auch auf eine ganze Gruppe oder die gesamte Firma ausweiten. Zugehörigkeit schafft Bindung. Jedoch ersetzt dies nicht die Beziehung zwischen MitarbeiterIn und unmittelbarer Führungskraft.
  • Ein zweiter wesentlicher Aspekt liegt in der Selbstwerterhöhung. Für ein seelisches Wohlbefinden ist es unabdingbar, durch die „Behandlung“ durch andere Menschen zu erleben, dass wir wertvoll sind. Es geht um „Gewollt-Sein“. Die wirkungsvollste Methode, einem Menschen Wertschätzung zu zeigen, ist, sich für ihn zu interessieren, ihm Aufmerksamkeit und Zeit zu schenken. Auch hier hat es ein besonderes Gewicht, wenn es ein Vorgesetzter „mit Einfluss“ ist, der sich Zeit nimmt oder durch andere Gesten zum Ausdruck bringt, dass er sich freut, wenn es der/dem MitarberIn gut geht, oder der verbal zum Ausdruck bringt, was er in ihr/ihm sieht. Da Führungshandeln eine enorme Vorbildfunktion hat, ist es zudem sehr wahrscheinlich, dass auch das gesamte Team ein höheres Maß an gegenseitiger Wertschätzung lebt und erlebt.
  • Zum Dritten geht es darum, Entwicklung zu erfahren. Menschen wollen wachsen und lernen. Dazu gehört, dass sie sich ausprobieren können, Fehler machen dürfen (auch mehrfach) und ermutigt werden. Es geht um die wichtige Erfahrung, etwas zu können, also Selbstwirksamkeit zu erleben. Führungskräfte, die ihre MitarbeiterInnen fordern, vermitteln ihnen, dass sie an sie glauben und ihnen noch mehr zutrauen. Gleichzeitig unterstützen sie sie in ihrer Karriere, indem sie ihre Kompetenz ausbauen. Nicht zuletzt ist die Erfahrung der Selbstwirksamkeit und der Fähigkeit, Herausforderungen zu meistern, eine zentrale Voraussetzung für Stressresistenz und Resilienz. Der Gehirnforscher Gerald Hüther beschreibt, was erforderlich ist, um wirklich zu lernen: Einladung, Inspiration und Ermutigung. In einem so geführten Team sind Innovationen, Spitzenleistung und somit ein hohes Maß an Teamgeist wahrscheinlich.
  • Die vierte wesentliche Möglichkeit, Bindung zu erzeugen, ist Sinn zu stiften und Orientierung zu bieten. Der Wert der geleisteten Arbeit hängt unmittelbar damit zusammen, was sie für einen größeren Kontext bedeutet. Je unverzichtbarer der eigene Beitrag für das „Große Ganze“ erscheint, desto sinnvoller und relevanter wird das eigene Handeln erlebt. Die Gehirnforschung hat belegt, dass aus der Sinnstiftung („es ist meins und es ist richtig“) die größte Handlungsenergie (= intrinsische Motivation) erwächst. Die intrinsische Motivation bietet dabei den entscheidenden Vorteil, dass sie sich nicht „verbraucht“. Im Gegenteil: Wer einer Sache nachgeht, die er für wirklich wichtig hält, steigert auf dem Weg seine Handlungsenergie. Führungskräfte, denen es gelingt, Visionen zu vermitteln und die Frage nach dem „Warum?“ zu beantworten, erfüllen für MitarbeiterInnen eine wesentliche Funktion und tragen ganz erheblich zur Bindung bei. Und auch hier überträgt sich die Bindung dann auf das Team oder die gesamte Firma.

Im Führungsalltag zeigen sich diese vier Grundkriterien oft in Mischformen. Eine Führungskraft, die zum Beispiel eine Mitarbeiterin/einen Mitarbeiter in einer freundlichen Atmosphäre in die strategische Weiterentwicklung des Bereiches einbezieht und Verantwortung teilt, erfüllt alle vier Aspekte der Mitarbeiterbindung gleichzeitig.

Bindung ist wichtiger denn je

Was die Situation anspruchsvoller macht: Wir befinden uns in Zeiten enormen Wandels. Es ist zu vermuten, dass die Digitalisierung eine ebenso epochale Wirkung auf die Gesellschaft und den Arbeitsalltag entfalten wird wie einst die industrielle Revolution. Sie löst neue Ängste aus wie die vor dem Verlust von Arbeitsplätzen durch Automatisierung oder die Bedrohung der Privatsphäre durch die totale Überwachung. Sie schafft völlig neue Möglichkeiten und Produkte, die in einer Geschwindigkeit entwickelt werden, mit der keiner Schritt halten kann. Die Informationsflut war noch nie so hoch wie heute und nimmt weiter zu. Start-ups bestimmen vielerorts das Bild der Zukunft. Bestehendes wird infrage gestellt und Neues eingeführt. Agiles Arbeiten und „Reinventing Organization“ verändern Verantwortlichkeiten und stellen neue Anforderungen sowohl an die einzelnen Menschen als auch an die Führung.
Zudem ist die Gesellschaft in allen Ebenen im Umbruch. Großfamilien gehören längst der Vergangenheit an. Das Zusammenleben findet in immer kleineren und kurzlebigeren Bezügen statt. Wohlstand und jahrzehntelanges Leben in Frieden ermöglichen ein erheblich höheres Maß an Selbstverwirklichung und Individualität. Welche Buchstaben den nachfolgenden Generationen auch immer gegeben werden mögen, sie haben andere Ansprüche und in Teilen andere Werte als die Generationen davor.
Angesichts dieses Wandels stellt sich die Frage, inwiefern Bindung noch zeitgemäß ist, gebraucht und gewollt wird. Und die eindeutige Antwort lautet: Mehr denn je!
Es ist das Wesen des Menschen, das ihn nach Bindung suchen lässt. Der Bedarf an Inspiration, Ermutigung, Orientierung, Wertschätzung und Entwicklung ist höher als je zuvor. Wie sind nun die Führungskräfte auf diese Anforderungen vorbereitet? In aller Regel gar nicht oder höchst unzureichend. Das Führungserleben vieler MitarbeiterInnen ist geprägt von abwesenden Führungskräften, Kränkungen und Abwertungen, Zwängen, „technischer“ Verwaltung, Ohnmacht und Ratlosigkeit. Die psychischen Erkrankungen durch das Arbeitsumfeld haben erschreckende Ausmaße angenommen.
In den meisten Führungskräfteentwicklungsprogrammen geht es um die Vermittlung von Führungsinstrumenten. Führungskräfte lernen, Jahresgespräche zu führen, aber nicht, regelmäßig mit MitarbeiterInnen zu kommunizieren. Sie lernen zu kritisieren, aber nicht aufrichtig zu ermutigen. Sie lernen „aktives Zuhören“, aber nicht authentisches Interesse. Im Grunde beschreiben die meisten Instrumente ein distanziertes Verhältnis zwischen einem Mitarbeiter/ einer Mitarbeiterin und seiner/ihrer Führungskraft. Ganz so, als gehörten sie nicht zusammen, hätten diametrale Interessen und als müsse man Wege finde, wie man die Distanz überbrücken kann.

Empathie kann gelernt werden

Genau an diesem Punkt kommen wir zum Kern von Mitarbeiterbindung: Sie steht und fällt mit dem klaren und emotionalen Bekenntnis der Führungskraft zur Mitarbeiterin/zum Mitarbeiter. 100 oder Null. Am Ende kann eine Führungskraft eine MitarbeiterIn nur binden, wenn sie ihn/sie mag. Wenn sie voll hinter ihm/ihr steht. Und wenn sie sich kümmert. Es geht um die Grundhaltung der Führungskraft, die sich für die MitarbeiterIn entschieden hat und bereit ist, dessen/ deren Potenzial zu heben. Jemand sagte mal: „Jede Begegnung zwischen einem Mitarbeiter und einer Führungskraft ist ein Beurteilungsgespräch.“ Als soziale Wesen sind wir so konstruiert, dass wir in Bruchteilen von Sekunden erfassen, wie unser Gegenüber über uns denkt. Das leiten wir eher von Körpersprache, Gesichtsausdruck und Tonfall ab als aus dem Inhalt dessen, was gesagt wird. Und unser Gehirn nimmt dabei sehr klar wahr, wann das Verhalten der Führungskraft aufrichtig oder aufgesetzt ist. Zuneigung kann man nicht spielen. Man muss sie empfinden.
Es geht um Empathiefähigkeit. Um emotionale Intelligenz. Und die lässt sich entwickeln….

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Autor Jörg Hausmann

Jörg Hausmann

Jörg Hausmann war nach dem Studium der Elektrotechnik 11 Jahre in verschiedenen Positionen für die Siemens AG tätig. Seit 2006 ist er bei der Pawlik Consultants GmbH Trainer und Coach für Führungskräfte und Vertriebsmitarbeiter. Heute ist der der Leiter der Personalentwicklung Deutschland.

Publikationen: Co-Autor von Führung WISSEN, Pawlik Consultants GmbH