Wie Daniel Kahnemans „Schnelles Denken – langsames Denken“ bei der Personalentwicklung hilft

Denken ist die schwerste Arbeit, die es gibt. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum sich so wenige Leute damit beschäftigen Henry Ford (1863-1947)

Die beiden Männer schauen in ihre Richtung, und da ihre Blicke nicht erwidert werden, wenden sie sich den edlen Fahrzeugen zu, die vor ihnen präsentiert werden. Sie umkreisen die Automobile, nicken anerkennend über geballte Antriebskraft, die sich unter den eleganten Silhouetten der Motorhauben verbirgt und begeben sich schließlich leise miteinander sprechend in die Wartezone für Kunden, die hier, wie es sich für einen Weltkonzern gehört, Lounge heißt. Dort signalisiert der stylische Kaffeeautomat mit einem gedämpften Brummen seine Bereitschaft, all das an Getränken aus sich herauszuholen, was aus Kaffeebohnen gewonnen werden kann.

In den kommenden dreißig Minuten werden die beiden diesen Service in Anspruch nehmen, sich an verschiedenen Variationen von Kaffee erfreuen und daran, dass hier ein Hotspot kostenloses Surfen im Internet ermöglicht. Die drei Damen am Empfang werden beschäftigt sein, sich über Papiere beugen, Anrufe annehmen, Rechnungen schreiben und sich auch weiterhin nicht um die beiden Anzugträger kümmern.

Das sind die Momente, in denen Unternehmer sich die Haare raufen und mindestens zu sich, vielleicht aber auch zu den betreffenden Mitarbeiter sagen: „Leute, sagt mal, geht’s noch?“ Wenn sich die Verantwortlichen schließlich wieder beruhigt haben, dann wünschen sie sich möglicherweise eine Luke in der Schädeldecke ihrer Mitarbeiter, die sich öffnen ließe und den Blick frei gäbe auf das, was dort vorgeht. Aber nicht nur das „Was“ sollte zu sehen sein, sondern auch das „Warum“. Warum haben die Serviceassistentinnen den beiden potentiellen Kunden, die ja durchaus in das Beuteschema einer Premium-Automarke passen, nicht einen Blick, nicht ein auch noch so kleines nonverbales Zeichen der Wahrnehmung geschenkt? Was hat sie bewogen, spätestens in dem Moment, in dem die zwei die Tür passierten, den Kopf nicht zu heben? An mangelndem Wissen kann es nicht liegen. In jedem Frühstücksraum hängen die von den Herstellern in Zusammenarbeit mit teuren externen Beratungsfirmen erstellten „goldenen Grundsätze der Kundenbindung“. Ganz oben steht der Leitsatz: Wir nehmen jeden Menschen wahr! Und nicht nur diese feinen Vorsätze gibt es, sondern auch das eigene Bedürfnis nach Wahrnehmung durch andere. Jeder von uns ist selbst Kunde, auch die drei Damen. Wenn sie gefragt worden wären, was sie als Kundinnen erwarteten, wenn sie in ein Geschäft einträten, hätten sie unisono geantwortet: „Ich möchte, dass das Personal wenigstens zu erkennen gibt, dass es mich gesehen hat!“

Woran also liegt es dann, dass die drei ihre vorrangige Aufgabe nicht erledigt haben? Obiger Fall ist ja wahrhaftig keine Ausnahme, was jeder Leser aus eigenem Erleben bestätigen wird. Oft geben die Beteiligten als Grund für eine mangelhafte Behandlung von Kunden den Stress und die Hektik am Arbeitsplatz an. Durchaus richtig, dass diese Faktoren es nicht leicht machen, dem Gegenüber die ihm gebührende Aufmerksamkeit zu schenken. Für die drei Damen am Empfang kann es diese Entschuldigung allerdings kaum geben, schließlich befanden sich keine anderen Kunden im Raum, das Telefon klingelte auch nicht ununterbrochen und obendrein waren sie zu dritt. Was dann? In einem Satz gesagt, der ebenfalls banal klingt: Sie waren mit anderem beschäftigt, mit einer Aufgabe, die für sie in dem Moment größere Bedeutung hatte (oder der sie eine größere Bedeutung gaben) als die Personen, die durch die Tür kamen.

Ist das alles? Muss ein Unternehmer sich also damit abfinden, dass „seine Leute“ halt manchmal das eigentlich Wichtige nicht tun, nämlich sich um die zu kümmern, die die Existenz der Firma und damit des Arbeitsplatzes gewährleisten? Die Antwort ist ein klares „Nein“. Eine Veränderung kann herbeigeführt werden. Sie wird Mühe kosten, nicht nur denjenigen, der lernen will, oder es muss, wenn er seinen Job behalten will, sondern auch denjenigen mit Personalverantwortung, den Unternehmer oder denjenigen, den er mit dieser Aufgabe betraut hat. Und da sind wir jetzt auch angelangt bei einem der Gründe, warum es mit der Serviceorientierung trotz aller guten Vorsätze, trotz hunderter Ratgeber in Buchform, trotz Schulungen des Personals, nicht weit her ist. Wer Personal haben will, das den Gedanken der Zuwendung zum Menschen verinnerlicht hat und ihn auch unter schwierigen äußeren Bedingungen (Stress) lebt, der muss bereit sein, viel Zeit und Aufmerksamkeit in diese Aufgabe zu investieren. Perfektion, so viel ist natürlich klar, wird es nicht geben. Und nicht bei jedem werden die Fortschritte durch eine durch die Führungskraft begleitete Förderung gleich groß sein. Das ist so, weil – wieder eine Banalität – jeder Mensch ein Individuum ist. Anders als bei all dem, was weitläufig unter einem Prozess zu verstehen ist, der auf die immer gleiche Weise abläuft, wird es sobald Menschen im Spiel sind unübersichtlich. Je mehr aber derjenige, der die Verantwortung für die Weiterentwicklung des Personals hat, über Menschen im Allgemeinen und die Person, die geschult werden soll, im Speziellen weiß, desto eher wird es ihm gelingen, genau das zu sein, was eine gute Führungskraft ausmacht: eine Hilfe für die Weiterentwicklung derjenigen, die unter ihrer Leitung arbeiten.

Das ist Grund für dieses Buch. Es soll kein Ratgeber mit Lösungsgarantie sein – das wäre vermessen und dem komplexen Thema „Personalentwicklung“ nicht angemessen. Es soll vielmehr demjenigen, dem die „eigene Mannschaft“ am Herzen liegt, Mut machen, an dieser Aufgabe dran zu bleiben, und es soll Hinweise geben, wie eine strukturierte Fortbildung aussehen kann. Außerdem versteht es sich als Handbuch für eine Übersicht über wesentliche wissenschaftliche Erkenntnisse rund um das Thema „Denken“. Auf diese Weise sollen Einblicke gegeben werden in das komplexeste System, das bisher im Universum gefunden wurde und ohne das das Lernen nicht möglich ist: das Gehirn.

Lernen braucht Hirn

Eine der aufsehenerregendsten wissenschaftlichen Veröffentlichungen der letzten Jahre, die sich dem Thema „Denken“ widmet, stammt von dem amerikanischen Psychologen Daniel Kahneman. Der Autor, 2002 mit dem in Erinnerung an Alfred Nobel vergebenen Preis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet (der inoffizielle „Wirtschaftsnobelpreis“), gab seinem Buch den Titel „Thinking, fast and slow“, Deutsch „Schnelles Denken, langsames Denken“. Damit spricht er genau den Bereich an, der in der Personalentwicklung im Zentrum des Interesses steht: das Denken. Das Denken ja, denn natürlich kommt es letztlich auf die Handlungen der Mitarbeiterin oder des Mitarbeiters an, doch wenn nicht in ihrem/seinem Denken eine bewusste Auseinandersetzung mit der gewünschten Veränderung stattgefunden hat, dann wird auch das von den Personal-Verantwortlichen erwartete Verhalten nicht gezeigt werden.

Um das konkreter werden zu lassen, sei noch einmal auf das Beispiel der Einleitung verwiesen. Wenn sich die drei Damen nicht bewusst beschäftigen mit der Notwendigkeit der Wahrnehmung jedes Menschen, der durch die Tür kommt, dann werden sie dies immer wieder aus den Augen verlieren. Dabei muss dieses Ziel zunächst einmal genau definiert werden, in der Folge muss es gedanklich bearbeitet werden, ehe es schließlich daran geht, den Gedanken zur Tat werden zu lassen. Diese Abfolge, die zu der gewünschten Verhaltensänderung führt, bedeutet, so zeigt es Kahneman in oben genanntem Buch, für das Gehirn Schwerstarbeit. Damit wird auch gezeigt, dass das Anbringen von „goldenen Unternehmensregeln“ im Frühstücksraum nur einen geringen Effekt hat – wenn überhaupt.
Kahneman unterscheidet, wie der Titel des Buches verrät, zwei Arten des Denkens. Er nennt sie Systeme. Das System 1 (im Folgenden abgekürzt als S1), das schnelle Denken, betrifft gedankliche Herausforderungen, denen wir ohne Anstrengung begegnen. Sie laufen sozusagen automatisch ab, ohne Steuerung durch unseren Willen. Um ein Beispiel zu nennen: Das Ergebnis der Multiplikation 2 x 2 ist bei den meisten Menschen fest im Gehirn verankert. Dagegen wird es ebenfalls der großen Mehrheit sehr viel Mühe machen, das Ergebnis von 17 x 28 im Kopf auszurechnen. Für diese Aufgabe muss der Mensch konzentriert sein, sie beispielsweise als Autofahrer im dichten Verkehr einer uns unbekannten Stadt lösen zu wollen, wird nicht gelingen. Das komplexe Rechenproblem kostet uns Mühe und wird im System 2 (S2) bearbeitet. Es entspricht – dem Titel von Kahnemans Werk gemäß – dem langsamen Denken. An dieser Stelle gilt es zu betonen, dass, wie Kahneman ausdrücklich erklärt, S1 und S2 keine Systeme im üblichen Sinne sind. Sie sind auch nicht in irgendeinem Teil des Gehirns zu finden. Kahneman hat sein Modell entwickelt, um Denkvorgänge verständlicher werden zu lassen und Erklärungen zu liefern für Täuschungen, denen Menschen unterliegen.

Mit der von ihm vorgenommenen Unterscheidung zwischen diesen beiden Arten des Denkens ersetzt Kahneman die sonst allgemein übliche Trennung von Emotion und Ratio. Von langsamem und schnellem Denken zu sprechen ist sinnvoller als zwischen Rationalität und Emotionalität zu unterscheiden, denn längst sind sich Wissenschaftler einig, dass Menschen nicht ohne Emotion denken können, also niemals vollkommen rational sind.

Kahneman nennt eine Reihe weiterer Beispiele, die die Unterscheidung zwischen den Systemen erleichtern. Für S1 führt er unter anderem das Erkennen von Gegenständen an, die sich in unterschiedlicher Entfernung befinden, die sofortige Zuwendung zur Quelle eines lauten Geräuschs, für einen Autofahrer das Steuern seines Fahrzeugs auf einer leeren Straße, das Erkennen von Feindseligkeit in einem Gesicht oder die mimische Reaktion auf ein grauenhaftes Bild. Weiter zählt er auch das Verstehen einfacher Sätze zu den Dingen, die das S1 erledigt, das Lesen großer Reklametafeln und das Vervollständigen von festen Redewendungen, wie „Brot und…“ – genau – „Spiele“. Schließlich verweist Kahneman noch auf einen Bereich, der auch dann eine wichtige Rolle spielt, wenn es um den Umgang mit Kunden geht: das Aufrufen von Mustern oder Stereotypen. Dies geht völlig ohne Anstrengung und findet somit im S1 statt. Wir erfahren etwas über einen Menschen und sofort wird ein Urteil in uns abgegeben. Kahneman zeigt, wie leicht dies zu gravierenden Fehlschlüssen führt. Dafür liefert er die Beschreibung einer Person namens Steve: „Steve ist sehr scheu und verschlossen, immer hilfsbereit, aber kaum an anderen oder an der Wirklichkeit interessiert. Als sanftmütiger und ordentlicher Mensch hat er ein Bedürfnis nach Ordnung und Struktur und eine Passion für Details.“ Im Anschluss an diese Beschreibung wird die Frage aufgeworfen: „Was ist Steve eher, Bibliothekar oder Landwirt?“

Welche Antwort werden die meisten ohne Zögern geben? Experimente haben gezeigt, dass die große Mehrheit der Versuchspersonen in Steve eher einen Bibliothekar als einen Landwirt sieht. Doch ist dies logisch? Hat die obige Beschreibung irgendwelche Informationen enthalten, die auf die statistische Wahrscheinlichkeit, dass Steve eher Bibliothekar als Landwirt ist, irgendeinen Einfluss hat? Nein! Bei Berücksichtigung der reinen Fakten ist es z. B. für Deutschland gesehen sehr viel wahrscheinlicher, dass Steve Landwirt ist und nicht Bibliothekar. Es gibt in Deutschland über 300.000 landwirtschaftliche Betriebe, dagegen stehen etwa 10.700 Bibliotheksstandorte (Stand 2010).

Stark vereinfacht ließe sich also sagen, dass es dreißig Mal wahrscheinlicher ist, dass Steve Landwirt ist. Das System 1 aber hat das Muster angelegt, dass ein Bibliothekar weniger an Menschen als an Büchern interessiert ist, deshalb eher verschlossen und ganz sicher ordnungsliebend ist. Das in unserem Hirn abgelegte Stereotyp ermöglicht eine blitzartige Beurteilung. Dies ist oft hilfreich, manchmal sogar lebensrettend. Wer bei starkem Regen auf der Autobahn fährt, der muss im Moment des Aufleuchtens roter Lichter in der Gischt der vorausfahrenden Wagen nicht nachdenken, was das bedeutet. Es erfolgt in Bruchteilen von Sekunden das reflexhafte Treten des Bremspedals, als Reaktion auf die als potentiell gefährlich eingeschätzte und so in unserem Hirn abgelegte Situation. Dieser Fall zeigt auch, dass System 1 gefüttert wird durch Erfahrungen, die Menschen machen. Wer einmal bei Regen zu wenig Abstand auf den vorausfahrenden Wagen eingehalten und dann trotz Vollbremsung einen Auffahrunfall verursacht hat, der wird augenblicklich in einem Zustand höchster Wachsamkeit sein, wenn er sich wieder in einer vergleichbaren Situation befindet.

S1 ist also, wie das eben genannte Beispiel zeigt, lernfähig. Daniel Kahneman macht das deutlich, wenn er von einem erfahrenen Feuerwehrmann berichtet, der als Zugführer mit seiner Mannschaft in ein brennendes Haus geht und plötzlich seinen Leuten befiehlt, den Raum sofort zu verlassen. Kaum dass der Letzte durch die Tür ist, stürzt die Decke ein. Ohne die Lage bewusst durchdacht zu haben (also das S2, das langsame Denken, genutzt zu haben), hat er die richtige, lebensrettende Entscheidung getroffen. Im Nachdenken darüber, warum er so handelte, konnte der Feuerwehrmann davon berichten, dass sich seine Ohren heiß anfühlten, dass er ein merkwürdiges Knistern hörte und damit unbewusst erkannte, dass der eigentliche Brandherd nicht in diesem verqualmten Zimmer, sondern im Raum darüber lag. Dieser Einschätzung lagen Erfahrungen aus vielen anderen Einsätzen zugrunde. Ein junger Zugführer hätte mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit diese Warnsignale nicht erkannt und er und seine Männer den Einsatz vielleicht nicht überlebt.

Noch deutlicher zeigt Kahneman, wie sehr S1 durch Erlebtes geformt wird, am Beispiel eines Schachspielers. Großmeister lösen bei Spielern auf einem niedrigeren Level Erstaunen aus, wenn sie quasi im Vorbeigehen an einem Brett den Ausgang der Partie und die Zahl der noch zu spielenden Züge erkennen. Was wie ein Wunder erscheint, ist nichts anderes als das Ergebnis Tausender bereits gespielter Partien, die im Hirn gespeichert sind. Beim Blick aufs Brett findet ein sekundenschneller Abgleich mit diesem Wissen statt, der dann die präzise Vorausschau auf den Ausgang möglich macht. Damit ist das Thema Intuition, dem Menschen gerne eine geheimnisvolle Note geben, einleuchtend erklärt. „Intuition“, so zitiert Kahneman den amerikanischen

Sozialwissenschaftler Herbert Simon, „ist nicht mehr und nicht weniger als Wiedererkennen.“
Wo es den Menschen rettet, ihm in einem Wimpernschlag den Überblick über eine Situation verschafft, kann das S1 aber auch in die Irre führen, wie das Beispiel des vermeintlichen Bibliothekars Steve zeigt. Geht es um den Umgang mit Kunden, so sind gravierende Fehler in den allermeisten Fällen auf das schnelle Denken zurück zu führen. Zur Verdeutlichung wieder Szenen, die sich so in einem Autohaus abgespielt haben. Ein junger Mann kommt mit Schuhen, an denen Lehm klebt, in den Verkaufsraum. Der ebenfalls noch junge Verkäufer geht auf ihn zu und ohne weitere Begrüßung bekommt der potentielle Kunde zu hören: „Die Gebrauchten sind draußen!“ Zweifellos ist das ein extremes Beispiel. Keine Frage auch, dass bei dem Verkäufer erheblicher Schulungsbedarf besteht. Neben dem eklatanten Mangel bei der Einhaltung der Grundregel, jeden erst einmal freundlich zu begrüßen und ihn nach seinen Wünschen zu fragen, zeigt sich hier die große Gefahr, in die uns das schnelle Denken bringen kann. Menschen sehen etwas und S1 liefert ihnen die komplette Geschichte: „Das ist einer mit dreckigen Schuhen. Wenn er noch nicht einmal saubere Schuhe hinbekommt, wie viel weniger kann so jemand die nötige Kohle haben, sich eines unserer schönen neuen, aber auch teuren Modelle zu leisten!“ Thema durch – Kunden zu den Gebrauchten schicken und „gut is“. Obwohl er es vielleicht nicht einmal ahnt, der smarte Junior Seller kennt die wahre Geschichte nicht. Er wird sie auch nie erfahren (es sei denn, er liest dieses Buch und kann die geschilderte Begebenheit wiedererkennen). Derjenige, den er mit einer schon sehr bemerkenswerten Arroganz nach draußen beförderte, ist Tiefbauingenieur, kam direkt von der Baustelle und hatte von seinem Chef den Auftrag erhalten, sich um einen Firmenwagen im „anständigen“ fünfstelligen Euro-Bereich zu kümmern. Überflüssig zu erwähnen, dass das neue Firmenfahrzeug von einem anderen Händler geliefert wurde.

Die Erfahrungen eines Kfz-Unternehmers aus dem Norden Deutschlands liefern weitere Beweise dafür, dass das schnelle Denken Gefahren birgt. Kurz nach dem Umzug aus der Landeshauptstadt und der Übernahme eines Betriebs in einer Kleinstadt betrat ein älterer Mann das Geschäft. Seine Kleidung war zerschlissen und in den Händen hielt er zwei Plastiktüten. Auf den Versuch, ihn mit ein paar Katalogen abzuspeisen, reagierte der Mann nicht. Stattdessen steuerte er zielstrebig auf das teuerste Modell in der Ausstellungshalle zu. Eher widerwillig präsentierte der Unternehmer das Fahrzeug, das seinem Gegenüber nicht nur gefiel, sondern das er sofort bar bezahlte. Das Geld trug er in den Plastiktüten bei sich. Der überaus erstaunte Chef des Autohauses erfuhr, dass es sich bei dem Käufer um einen wohlhabenden Landwirt handelte, der kein besonderes Vertrauen in die Banken besaß und Geschäfte lieber bar abwickelte. „Das hätte mir eine Lehre sein sollen“, so berichtete er, „aber die Lektion habe ich leider nicht so schnell gelernt. Zwar steckte ich jemanden mit eher schäbiger Kleidung nicht mehr gleich in die Obdachlosen-Ecke, aber in mehreren Fällen bin ich in genau entgegengesetzter Weise getäuscht worden. Es kamen Leute in feinem Zwirn in den Betrieb, und wir lieferten ihnen ein teures Fahrzeug. Hinterher stellte sich heraus, dass die eleganten Herrschaften den Wagen schlicht nicht bezahlen konnten. Große Probleme machte es dann, die Fahrzeuge zurück zu bekommen, manchmal musste ich sogar Anwälte einschalten.“ Eine wirklich eindrucksvolle Schilderung für die Irrtümer, die das schnelle Denken hervorbringt. Gleichzeitig zeigt sich, wie schwer es ist, das S1 neu zu programmieren. Zwar ließ sich der Firmenchef nicht mehr so leicht von schäbiger Kleidung täuschen, aber von einem eleganten Auftreten sehr wohl. Dabei ist die Lektion doch ganz klar: Die äußere Erscheinung verrät nicht, wie es wirklich um die Kaufkraft eines Kunden bestellt ist.

Doch selbst wer das weiß, wer sich bewusst ist, dass eine Täuschung droht, wird von seinem schnellen Denken beherrscht. System 1 hat nun einmal Vorrang. Kahneman zeigt, wie stark S1 ist, mittels der sogenannten Müller-Lyer-Täuschung.
Immer erscheint die obere Linie länger als die untere, obwohl beide gleich lang sind. Selbst das Wissen um diese optische Täuschung verhindert sie nicht. S1 meldet „obere Linie länger als untere“, und nun muss S2, das bewusste und langsame Denken, mit großer Mühe dieser Illusion entgegenwirken; man könnte sagen, S2 muss S1, das mit lauter Stimme und fester Überzeugung die Fehlschlüsse hinausposaunt, mit noch lauterer Stimme übertönen, quasi niederbrüllen. Wenn sich der Mensch für einen Moment von der Müller-Lyer-Täuschung abwendet und wenig später wieder auf sie schaut, dann geht das Wortgefecht von vorne los. Kein Wunder, dass unser Hirn, das nur rund zwei Prozent unseres Körpergewichts ausmacht, aber unter Normallast schon zwanzig Prozent der uns gesamt zur Verfügung stehenden Energie verbraucht, sich nicht auf diesen ständigen kräftezehrenden Konflikt einlassen kann.

S1 sorgt deshalb mit seinen blitzartigen Urteilen für die Einsparung von Ressourcen. Oft geht das gut, aber besonders dann, wenn wir uns in komplizierten Situationen befinden, wenn wir z. B. mit anderen Menschen (mit Kunden) in Kontakt kommen, dann sind Fehler eine logische Folge. Besonders natürlich, wenn die Kunden ihrem Gegenüber ein Urteil wie auf dem Silbertablett präsentieren, indem sie diesem in schäbiger Kleidung, lehmigen Schuhen oder mit grimmigem Gesicht entgegentreten.

Kahneman hat für die Voreiligkeit von Einschätzungen, die Oberflächlichkeit von Urteilen eine eigene Regel, die „WYSIATI-Regel“ geschaffen. Das Akronym steht für „What you see is all there is“ oder in Deutsch „Nur was man gerade sieht [weiß], zählt.“ Das ist das, was S1, das schnelle Denken, immer wieder dem Menschen nahe legt. Wer sich das nicht bewusst macht, der wird möglicherweise getäuscht. Es braucht ein aktives System 2, um die dem Menschen innewohnende Tendenz zum Fehlschluss zu reduzieren.

Mit dem Wissen um diese Phänomene wird auch deutlich, warum Personalentwicklung so eine anspruchsvolle Aufgabe ist. Wer das S1 neu programmieren möchte, der versucht nichts anderes als die Neuschaffung von Automatismen, die Neuprogrammierung von Stereotypen. Gleiche Situationen, wie das Eintreten eines Kunden ins Geschäft, erfordern dann kein bewusstes Nachdenken mehr. Die Reaktion darauf läuft automatisch ab. Denken wir nur noch einmal an das in der Einleitung genannte Beispiel zurück. Erstes Ziel einer Schulung der Serviceassistentinnen könnte sein, sie lernen zu lassen, dass, wann immer die elektronische Tür aufgeht, der Kopf gehoben wird. Die eintretende Person, egal ob Kunde, ein Kurierfahrer, die 400-€-Kraft, die die Kundenfahrzeuge wäscht, wird angeschaut (vielleicht – um die Aufgabe noch ein wenig anspruchsvoller zu gestalten – sollte der Anspruch sein, dass dem Heben des Kopfes ein freundlicher Blick folgt).

Damit die Veränderung auch wirklich gelingt, muss in der Lernphase eine Person da sein, die auf die strikte Einhaltung dieses Ziels achtet. Wann immer der Kopf nicht gehoben wurde (und nicht freundlich geschaut wurde), muss direkt an das zu erreichende Ziel erinnert werden. Das sofortige Feedback ist ein entscheidender Schlüssel für die Programmierung von S1. Ein Kind, das Laufen oder Fahrradfahren lernt, erhält auch sofort ein Feedback, wenn es nicht aufpasst – oft ein schmerzhaftes, dafür aber ein ungemein wirkungsvolles. Wem das übertrieben erscheint, der beobachte doch einmal das Empfangspersonal von Hotels der obersten Kategorie. Dort ist professionelle Freundlichkeit Standard, egal, ob gerade eine besonders stressige Situation herrscht oder nicht. Dieser Umgang mit den Gästen ist nicht angeboren, er wird erlernt und ist schließlich fest in S1 verankert. Es ist eine Technik. Niemand wird bezweifeln, dass z. B. die Durchführung einer Inspektion bei einem Fahrzeug erlernt werden muss. Niemand wird erwarten, dass der Mechaniker, der gerade von der Schulung in einer neuen Technik kommt, sofort in der Praxis fehlerlos sein wird. Zur Erreichung dieses Ziels – möglichst wenig Fehler zu machen – wird demjenigen Zeit gegeben werden, immer wieder dieselben Abläufe zu wiederholen, im besten Fall unter Anleitung einer Person, die diese Technik bereits beherrscht. Genau das braucht es, wenn das Personal in der Technik des professionellen Umgangs mit Kunden geschult werden soll: stetige Wiederholung, kontinuierliches Feedback und Zeit.

Die Beschäftigung mit diesen Grundüberlegungen zum Thema Personalentwicklung findet im System 2 statt. Wann immer wir uns darin befinden, wann immer also der langsame Denkprozess abläuft, kostet das den Menschen das berühmte „Hirnschmalz“. Daniel Kahneman listet eine Reihe von Situationen auf, in denen der Einsatz von S2 gefordert ist. Dazu zählt eine komplizierte Rechenaufgabe, für einen Wettläufer das Sich-Einstellen auf den Startschuss, das Durchsuchen des Gedächtnisses nach einem ungewöhnlichen Geräusch, um es zu identifizieren, und das Vergleichen zweier Geräte im Hinblick auf das Preis-Leistungs-Verhältnis. Auch die Angemessenheit seines Verhaltens in einer sozialen Situation zu überwachen, ist eine Aufgabe für das langsame Denken. Der letzte Punkt verdeutlicht, warum es in der Personalentwicklung wichtig ist, dass Führungsebene und MitarbeiterInnen Ziele gemeinsam entwickeln. Geschieht dies, dann wird es den MitarbeiterInnen leichter fallen, das eigene Handeln mit dem Ziel abzugleichen und nötigenfalls Änderungen vorzunehmen. Im Fall der oben genannten Service-Assistentinnen ist es nicht besonders anspruchsvoll, ein erstes wichtiges Ziel, wie das Heben des Kopfes und der freundliche Blick, gemeinsam zu erarbeiten. Es genügt, den dreien in Erinnerung zu rufen, wie sie selbst gerne behandelt werden möchten, wenn sie ein Geschäft betreten.

Findet das gemeinsame Erarbeiten von Zielen nicht statt, dann ist die Führungsebene gefordert, zumindest den Sinn der gemachten Vorgaben ausführlich zu erklären. Wer das vernachlässigt, der wird mit eiserner Kontrolle „herrschen“ müssen, da er sonst riskiert, dass die Aufgaben nicht erledigt werden, weil kein Sinn in ihnen gesehen wird, oder weil es die Ziele eines anderen Menschen sind, eines Menschen, an dem dem Betreffenden vielleicht noch nicht einmal etwas liegt.
Daniel Kahneman liefert mit seinem Modell von den zwei Systemen eine eindrucksvolle Möglichkeit, die Herausforderungen von Personalentwicklung besser zu erkennen. Unternehmer mit dem Ziel, ihr Personal in puncto Serviceorientierung weiter zu entwickeln, müssen beide Systeme ansprechen. S2, das langsame Denken, muss zur Erkennung von Zielen und dem wichtigen Abgleich mit dem Handeln angesprochen werden. Wenn es um professionelle Höflichkeit geht, dann ist es erforderlich, Automatismen zu entwickeln. Durch kontinuierliche Schulung, direktes Feedback und Geduld werden diese Teil des Systems 1, des schnellen Denkens. So ist es möglich, auch in Momenten großer Belastung freundlich zu sein, da es dann nicht mehr des Nachdenkens bedarf, um diese Handlungsmuster abzurufen.

Das ist eine Aufgabe, die nicht nur von Seiten der Mitarbeiter, sondern vor allem von der Führungsebene echtes Engagement verlangt.

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