Bindung als Lebenselixier

Erfahrungen eines Piloten der Lufthansa

Steht für Menschen viel auf dem Spiel, sind Bindungen wichtig. Ein Säugling kann nur überleben, wenn eine Mutter-Kind-Bindung aufgebaut werden kann. Eine längerfristig funktionierende Partnerschaft ist ohne Bindung nicht möglich. Eine Seilschaft im Hochgebirge kann ohne Bindung – in diesem Fall ganz wörtlich gemeint – durch ein Seil bei einem Sturz nicht überleben.

Bindung – ein Auslaufmodell?

In anderen Bereichen hat Bindung allerdings einen ganz anderen Stellenwert. Berufsanfänger erleben immer häufiger einen potenziellen Arbeitgeber, der ganz bewusst keine enge Bindung eingehen möchte. Befristete Arbeitsverträge, die „Generation Praktikum“ oder eine sogenannte Scheinselbstständigkeit finden immer größere Verbreitung. Medien berichten davon, dass eine enge Bindung heute nicht mehr „up to date“ ist und in der Regel nicht gewünscht wird. Lebensabschnittspartnerschaften ersetzen enge Bindungen. Der Säugling findet sich schon mit einem Jahr in der Kinderbetreuung wieder, damit sich seine Eltern beruflich entfalten können – nicht selten in einem Unternehmen, das keine enge Bindung zu seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aufbauen möchte. Im Zweifel ist eine schnelle, unkomplizierte Trennung (sowohl im Beruflichen wie im Privaten) erwünscht. Passen diese gegensätzlichen Erfahrungen zusammen? Kann und sollte heute auf Bindung verzichtet werden? Ist sie in der beruflichen Welt ein Relikt, ein Überbleibsel längst vergangener Zeiten? Wird „hire and fire“ gewinnen? Diese Fragen sollen in diesem Beitrag aus dem Blickwinkel einer Fluggesellschaft beantwortet werden.

Bindung des Passagiers an eine Fluggesellschaft

Für eine Fluggesellschaft ist eine enge Bindung zu den Fluggästen wichtiger denn je. Schon aus finanziellen Gründen sollen Passagiere an die Airline gebunden werden. Hierfür wurden aufwendige Kundenbindungsprogramme entwickelt. Durch das Sammeln von Flugmeilen können Privilegien gewonnen werden. Sie reichen von kleinen Geschenken, einer bevorzugten Behandlung beim Check-in und der Sicherheitskontrolle bis hin zu einer Sitzplatzvergabe in einer höheren Beförderungsklasse. Die Lufthansa erwirtschaftet durch treue Stammkunden einen erheblichen Teil ihres Gewinns. Der Verlust eines Topkunden bedeutet einen einschneidenden finanziellen Verlust, der eine sechsstellige jährliche Summe übersteigen kann. Technisch ausgereifte Computerprogramme ermitteln persönliche Vorlieben der Passagiere. Gute Kunden sollen in der gesamten Wertschöpfungskette namentlich angesprochen werden: Bindung ist elementar!

Vertrauen als Basis für Bindung

Wichtigstes Element für den Aufbau einer engen Bindung zu einer Fluggesellschaft ist – neben einem perfekt gewarteten, sauberen Flugzeug sowie einem guten Service – in erster Linie das Vertrauen von Seiten des Kunden. Den Kern dieses Vertrauens bildet das Versprechen eines hohen Sicherheitsniveaus durch die Fluggesellschaft. Bei Befragungen von Passagieren, was ihnen bei der Wahl der Fluggesellschaft wichtig ist, wird der Punkt Sicherheit allerdings häufig erst nach Preisniveau und Service genannt. Diese Tatsache wird hin und wieder von den Betriebswirtschaftlern in Unternehmen der Branche dahingehend missinterpretiert, dass Sicherheit für den Gast nicht an erster Stelle steht. Tatsächlich aber wird der „Hygienefaktor“ Sicherheit schlicht vorausgesetzt. Zweifel an der Sicherheitskultur können eine Fluggesellschaft schnell in den finanziellen Ruin stürzen.

Risikomanagement und Bindung

Ein wirkungsvolles Risikomanagement hat folglich für eine Fluggesellschaft eine herausragende Bedeutung: Vertrauen in die firmeninternen, für den Kunden im Verborgenen ablaufenden Prozesse, ist eine wichtige Voraussetzung für eine langfristige Bindung. Eine Flugbesatzung empfindet es immer wieder als großes Kompliment, aber auch als motivierende Verpflichtung, wenn ein Gast in einem Tausende Kilometer von seinem Wohnort entfernten Erdteil das Flugzeug mit den Worten betritt: „Jetzt bin ich zu Hause angekommen!“ Das Gefühl der Passagiere geborgen zu sein, ist für Lufthansa ein entscheidender Markenkern, der täglich immer wieder neu hergestellt und gepflegt werden muss.

Der Mensch – Risiko und Rettung

Was sind die wichtigsten Faktoren, die über das Sicherheitsniveau einer Fluggesellschaft entscheiden? Seit den 1970er-Jahren waren viele Experten der Ansicht, dass nur verbesserte Technik und vor allem eine Erhöhung des Automationsgrads bei der Flugzeugsteuerung die Flugsicherheit erhöhen werden. Der Mensch sollte zunehmend nur eine untergeordnete Rolle spielen. In den letzten beiden Jahrzehnten hat sich gezeigt, dass – trotz immer zuverlässiger werdender Technik – der Mensch im System der wichtigste Baustein für hohe Qualität und Sicherheit ist. Die Hoffnung, dass verbesserte Technik zusammen mit einem kontinuierlich erhöhten Automationsgrad höchste Sicherheit garantieren kann und den potenziell fehlerbehafteten Menschen ersetzen kann, hat sich nicht erfüllt. Im Gegenteil: Je komplexer die Technik wird, umso wichtiger ist ein(e) gut ausgebildete(r), hochmotivierte(r) MitarbeiterIn, die/der in nicht standardmäßig ablaufenden Situationen den Überblick behält. Sie/er muss Plausibilitätskontrollen durchführen, schnelle Entscheidungen treffen und die Unzulänglichkeiten komplexer Computerprogramme erkennen und ausgleichen. Die Erwartung der Computeringenieure hat sich bisher nicht erfüllt: Menschen haben komplexe Maschinen gebaut, um den fehlerbehafteten Menschen zu korrigieren und zu ersetzen, und nun lehren uns die komplexen Maschinen, dass nur ein hervorragend eingespieltes Team die Restrisiken komplexer Technik beherrschen kann. Der Mensch im System erhält heute eine besondere Bedeutung. Welche Konsequenzen müssen aus dieser Erkenntnis gezogen werden?

Mitarbeiterbindung ist der Schlüssel

Die Auswahl, Aus- und Weiterbildung der MitarbeiterInnen ist ein unverzichtbarer Erfolgsfaktor. Hohe Leistungsbereitschaft, Leistungsfähigkeit und Treue zum Arbeitgeber sind ein entscheidender Schlüssel zur Erreichung einer kontinuierlich hohen Arbeitsqualität und Motivation. Diese Erfolgsfaktoren vertragen sich in der Regel nicht mit einem unverbindlichen Arbeitsverhältnis.

Bindung: Ein persönlicher Erfahrungsbericht

An dieser Stelle soll von allgemeinen Aussagen zu einer sehr persönlichen Antwort übergegangen werden: Der Autor dieses Artikels ist seit 1979 für die Lufthansa tätig. Die Bindung an das Unternehmen begann allerdings schon früher, in den 1960er-Jahren: „Schon als Zehn-Jähriger wollte ich Pilot werden. Auslöser waren Besuche am Flughafen München. Das Kranich-Logo prägte sich mir bei der Betrachtung einer imposanten Lockheed Super-Constellation mit ihren vier gewaltigen Sternmotoren oder einer eleganten Boeing B707 oder B727 ein. Nach dem Abitur stellte sich mir allerdings die Frage, ob dieser Beruf ein Leben lang erfüllen kann und ob eine Bindung zur Lufthansa die Zeit bis zur Pensionierung überdauern kann? Zweifel kamen auf und deshalb begann ich zunächst mit einem Studium der Physik und Mathematik. Doch der Traum vom Fliegen blieb, und im vierten Semester bewarb ich mich bei der Lufthansa.“

Bindung durch strenge Auswahl

„Einige Monate später absolvierte ich in banger Hoffnung den einwöchigen Pilotenauswahltest in Hamburg. An jedem Tag der Prüfungswoche wurden am späten Nachmittag die Bewerber nach Hause geschickt, die den Anforderungen nicht gerecht geworden waren. Von Tag zu Tag wurde die Gruppe kleiner und meine Bindung größer: Ich wollte es unbedingt schaffen. Nur etwa sieben Prozent der Bewerber bestanden den Auswahlprozess. Am letzten Tag waren von über zwanzig Probanden nur zwei übrig geblieben. Nach einem positiven Testergebnis stand für mich fest: Ich werde Pilot nicht Physiker – eine Entscheidung, die ich bis heute nicht bereut habe!“ Ein Merkmal für eine enge Bindung waren zunächst der erhebliche Aufwand und die erforderliche Anstrengung, um in den Kreis der Flugschüler aufgenommen zu werden und damit dazuzugehören. Der erste Schritt eine berufliche Bindung einzugehen, sollte deshalb nicht zu einfach sein. Das Überwinden einer Hürde erhöht die Bindungsbereitschaft.

Bindung durch anspruchsvolle Ausbildung

Die Bindung zum zukünftigen Arbeitgeber wurde in der Flugschulzeit vertieft: „Mein Pilotenlehrgang wurde in der Leuchtenburg, einem alten Herrenhaus in der Nähe von Bremen untergebracht. Das Haus liegt in einem Park mit einem malerischen Weiher. Die Wohnsituation ähnelt einem Uni-Campus in den USA oder in Großbritannien. Es entstand das Gefühl: Der Aufwand hat sich gelohnt. Ich spürte Wertschätzung. Die Ausbildung war anspruchsvoll. Nur wer die geforderten Lernziele erreichte, durfte an der Schule weitermachen. Die praktische Flugausbildung wurde in Arizona absolviert. Auch hier kam eine strikte „failure policy“ zur Anwendung: Eine Prüfung konnte nur einmal…

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Autor Manfred Mueller

Manfred Müller

Neben seiner Tätigkeit als aktiver Trainings- und Check-Kapitän ist Manfred Müller seit über 25 Jahren in der Flugsicherheitsabteilung tätig. Er absolvierte eine Ausbildung zum Flugunfalluntersucher an der University of Southern California in Los Angeles. Sein Arbeitsschwerpunkt ist das Erkennen, Bewerten und Kontrollieren von Risiken.