Kein Mensch ohne Bindung

Erkenntnisse der psychologischen Forschung

Der Kaiser des römisch-deutschen Reiches Friedrich der II. (1194-1250) beschrieb sich als einen „von Forschungsdrang erfüllten Mann und Liebhaber der Wahrheit“. Dieser Selbstdarstellung wollte der Franziskaner-Mönch Salimbene von Parma keineswegs zustimmen. Stattdessen versuchte er den Kaiser zu verunglimpfen, indem er ihm Freveltaten zuschrieb, für die es weder Anhaltspunkte noch Beweise gab. So habe Friedrich II. Säuglinge ohne jeden menschlichen Zuspruch aufwachsen lassen, um herauszufinden, in welcher Sprache sie, allein auf sich gestellt, zu reden anfingen; sie seien freilich gestorben, ohne irgendeine Äußerung zu tun. Diese fragliche Erzählung ist bereits bei Herodot über Psammetichos von Ägypten zu finden.
Davon abgesehen, dass diese Erzählung offensichtlich aus der Luft gegriffen war, eignet sie sich doch, um das Augenmerk auf das Thema Säugling und seine Bindung zu anderen Menschen zu lenken. Selbst wenn solche Experimente nie stattfanden, wäre das Sterben der Säuglinge durchaus nachvollziehbar. Intuitiv weiß jedermann, dass irgendeine Art der Bindung immer noch besser ist als Isolation und Ignoriertwerden.
Der schwedische Dichter Hjalmar Söderberg hat in seinem Gedicht: „Die Seele zittert vor der Leere“ das Thema der Bindung treffend zusammengefasst:

Wir wollen alle geliebt werden.
Werden wir nicht geliebt,
wollen wir bewundert werden.
Werden wir nicht bewundert,
wollen wir gefürchtet werden.
Werden wir nicht gefürchtet,
wollen wir gehasst und missachtet werden.
Wir wollen ein Gefühl
in unseren Mitmenschen auslösen,
ganz gleich, um welches es sich
dabei auch handeln mag.
Die Seele zittert vor der Leere
und sucht Kontakt
um jeden Preis.

Die Botschaft dieses Gedichts ist eindeutig: Kein Mensch kann Freude am Leben haben ohne Resonanz. Friedrichs Experiment zur Ursprache des Menschen unterstreicht, dass für die Entwicklung des Menschen mehr erforderlich ist als nur physische Versorgung. Also gilt dies auch für Menschen, die in einem Unternehmen zusammenarbeiten – und dies nach Möglichkeit dauerhaft. Die Wurzeln, die das Verhalten von Mitarbeitern mitprägen, reichen bis zu den ersten sozialen Erfahrungen der Kindheit zurück.
In diesem Kapitel wird daher zunächst die Bindungstheorie nach Bowlby vorgestellt. Dann wird auf die Entwicklungspsychologie von Kindern und Jugendlichen eingegangen.

Grundlagen der Bindungstheorie

John Bowlby entwickelte seine Bindungstheorie ab Anfang der Fünfzigerjahre. Er wurde beeinflusst von der Psychoanalyse, der Systemtheorie und vor allem der Ethologie (Verhaltensforschung). Seine ethologische Bindungstheorie fasste er in einem dreibändigen Werk zusammen: Bindung (1969), Trennung (1973) und Verlust (1980).
Er definiert Bindung als ein „gefühlsmäßiges Band“, das zwischen Individuen entsteht. Nach Bowlby entsteht Bindung in der frühen Kindheit und entwickelt sich kontinuierlich auf der Grundlage von Interaktionserfahrungen. Bowlby nahm an, dass jeder menschliche Säugling die angeborene Neigung hat, Nähe und Kontakt zu Bezugspersonen zu suchen und aufrechtzuerhalten (Bowlby, 1969). Dieses Bindungsverhalten in der frühen Kindheit unterscheidet Bowlby in Signalverhalten und Annäherungsverhalten:
• Signalverhalten ist besonders im frühen Säuglingsalter zu beobachten (z. B. schreien, lächeln, Arme ausstrecken), das bewirkt, dass die Fürsorgeperson Nähe und Kontakt zum Kind herstellt.
• Annäherungsverhalten (sich der Mutter annähern, ihr folgen, sich anklammern), das bewirkt, dass sich das Kind der Bindungsperson nähert.
Die aktive Suche von Nähe und Kontakt zu einer bestimmten Bindungsperson ist erst mit der zunehmenden motorischen, geistigen und sozialen Entwicklung des Kindes möglich, also ca. ab dem sechsten Lebensmonat. Bowlby (1969) erwähnte, dass dieselben Verhaltensweisen – Weinen, Lächeln oder Suche nach Nähe – je nach Kontext für Bindung oder aber für andere Verhaltenssysteme stehen können. Mit anderen Worten: Nicht jedes Weinen oder jede Suche nach Körperkontakt kann als Bindungsverhalten interpretiert werden. Dies hängt von der inneren oder äußeren Bedrohung ab, der das Kind gerade ausgesetzt ist, d.h. es ist kontextabhängig.
Bindungsverhalten wird erst dann aktiviert, wenn das Kind entweder durch innere Belastung (z.B. Hunger, Müdigkeit) oder durch äußeren Stress (z.B. eine fremde Umgebung, fremde Personen oder Abwesenheit der Bindungsperson in einer fremden Umgebung) auf die emotionale Unterstützung der Bindungsperson angewiesen ist. Es sucht aktiv nach Zuwendung, Schutz, Sicherheit und Unterstützung bei einer vertrauten Bezugsperson, wenn es eine Situation verunsichernd und beängstigend erlebt. Das liegt daran, dass ein Kind im frühen Lebensalter seine Affekte noch nicht selbst regulieren kann.
Während des ersten Lebensjahres fängt das Kind an, eine Erwartung hinsichtlich der emotionalen Verfügbarkeit und Erreichbarkeit der Bindungsperson zu entwickeln. Ebenfalls lernt das Kind die „übliche“ Reaktion der Bindungsperson in verschiedenen Situationen zu verinnerlichen. Neben den Verhaltenssystemen der Exploration, der Furcht, der sozialen Zuwendung und der Sexualität ist das Bindungsverhaltenssystem gleichfalls ein unabhängiges System. Verhaltensweisen des Bindungssystems entsprechen immer der Suche nach Sicherheit und Schutz. Primäre Bezugspersonen sind in der Regel die Mutter, der Vater, andere Familienmitglieder und Freunde der Familie. Auch eine externe Betreuung, wie z.B. eine Tagesmutter, kann eine wichtige Bezugsperson werden.
Die Fürsorgeperson spielt in dem Bindungsverhaltenssystem des Kindes eine wichtige Rolle. Zum Aufbau der Bindungsbeziehung trägt der Erwachsene mit seinem „Pflegeverhalten“ bei, indem er sich den Wünschen und Bedürfnissen des Kindes zur Verfügung stellt und die Signale des Kindes beantwortet. Das Pflegeverhalten der Bezugsperson und das Bindungsverhalten des Kindes bilden ein komplementäres Verhaltenssystem. Papusek (1998) spricht in diesem Zusammenhang von „intuitiven elterlichen Verhalten“. Denn in der elterlichen Kommunikation gibt es zahlreiche intuitive Verhaltensanpassungen, die dazu beitragen, eine frühe Kommunikation mit dem Säugling zu ermöglichen. Dieses Verhalten ist den Eltern nicht bewusst, und es findet sich auch bei Nichteltern, bei Frauen und Männern, in jedem Alter und kulturübergreifend.
Ab dem vierten oder fünften Lebensjahr sind Anzeichen von intuitiven elterlichen Verhaltensweisen auch bei Kindern zu beobachten. Diese nur beim Menschen vorhandenen Fähigkeiten gewährleisten die primäre Erziehung des Säuglings. Bislang hat sich herauskristallisiert, dass der Kontakt der Bindungsperson zum Kind notwendig ist, damit das Bindungsverhaltenssystem erfüllt ist. Fehlende Resonanz oder mangelnde Berechenbarkeit auf Seiten der Bindungsperson führen zu Mängeln im Bindungsverhalten, die häufig erst im Erwachsenenalter sichtbar werden. Hier ist auch eine erklärungsstarke Ursache von später auftretenden Persönlichkeitsstörungen auszumachen. Da die meisten Persönlichkeitsstörungen erst im Kontakt mit anderen Menschen bedeutenden Leidensdruck bewirken, werden Persönlichkeitsstörungen auch Beziehungsstörungen genannt.
Für die Arbeitswelt sind diese Bindungsstörungen hoch relevant. Denn sowohl die Führungskraft als auch der Mitarbeiter können Defizite in der Bindungsfähigkeit zeigen und damit den Erfolg des Unternehmens erheblich mindern.
Hat der Mitarbeiter nicht gelernt eine gesunde und ausgeglichene Bindung zu anderen Menschen herzustellen, wird er über kurz oder lang Kollegen oder die Führungskraft mit seinem Verhalten irritieren. Ein Beispiel: Kollegen haben David S. während seiner Einarbeitungszeit sehr unterstützt, damit er die komplizierten Lagerhaltungsprogramme sicher beherrscht. Als aufgrund einer Grippewelle mehrere Mitarbeiter in der Versandabteilung ausfallen, wird auch David gebeten, gelegentlich auszuhelfen. David lehnt dies ab, weil er mit einem eigenen Projekt in der Lagerhaltung beschäftigt ist.
Aufgrund einer mangelhaften Bindung, fühlt er sich in keiner Weise angesprochen seinen Kollegen nun den Gefallen von damals auszugleichen. Die Kollegen finden dieses Verhalten egoistisch, unfair und unsozial. Sie beschweren sich beim Chef. Im folgenden Vier-Augen-Gespräch mit der Führungskraft ist David erstaunt über diese Reaktionen und begründet sein Verhalten damit, dass es schließlich der Chef gewesen sei, der ihm das Projekt übertragen habe. Dass seine Kollegen von ihm soziale Kompetenz erwarteten und sich dementsprechend ein solidarisches, unterstützendes Verhalten in einer akuten Notsituation wünschten, kam David gar nicht in den Sinn.
Noch dramatischer sind die Auswirkungen allerdings, wenn die Führungskraft in der Kindheit keine Chance hatte, sein Bindungssystem zu entwickeln und zu stärken. MitarbeiterInnen suchen in der Reaktion ihrer Führungskraft nach Signalen der Bestätigung. Lob, Anerkennung aber auch konstruktive Kritik geben Sicherheit bei der Arbeit und steigern den Selbstwert. Wenn nun diese emotionalen Signale ausbleiben, führt dies zur Verunsicherung der Mitarbeiter. Damit sinkt die Motivation des Teams mit der sehr realen Gefahr, dass insbesondere die leistungsbereiten Mitarbeiter das Unternehmen verlassen.
Wie im folgenden Unterabschnitt angeführt, ist eine „sichere Basis“ wichtig für Explorationsverhalten. Ähnliches gilt in der Arbeitswelt: Nur wenn Unternehmen eine Atmosphäre von Lob und Anerkennung und damit emotionaler Sicherheit bieten, können Arbeitnehmer kreativ und innovativ sein.
Welche Signale erwarten MitarbeiterInnen von ihrer Führungskraft? Bindung entsteht ganz wesentlich nicht durch ein Firmenfest oder Ausflug oder irgendeine andere Großveranstaltung, sondern durch eine Ansammlung von vielen kleinen, täglich gezeigten Aufmerksamkeiten. Für sich genommen mag eine „normale“ Geste unbedeutend erscheinen.
Es ist jedoch die Menge dieser über einen längeren Zeitraum gezeigten Aufmerksamkeit, die Bindung schafft. Konkret: MitarbeiterInnen grüßen, ihnen in die Augen schauen und ernsthaftes Interesse an ihnen beweisen. Ob jemand eine Führungskraft ist, erkennt man daran, ob er wirklich an der Antwort interessiert ist, wenn er jemanden fragt: Wie geht es ihnen/dir? Wie war ihr/dein Tag? Wenn man die Frage stellt, so bedeutete dies selbstverständlich stehen zu bleiben, zu warten und auf die Antwort zu hören.

Bindungstypen im Kindesalter

Bowlby fokussierte sich vornehmlich auf die Verhaltenssysteme, die für die Entstehung von Bindung verantwortlich sind. Eine enge Mitarbeiterin Bowlbys war Mary Ainsworth, diese legte ihren Fokus eher auf die Resultate der Bindung, d.h. die Stärke und Qualität oder Sicherheit der Bindung (Ainsworth et al, 1978). Nach Ainsworth ist die Bindungsperson wichtiger Bestandteil der Bindungsorganisation des Kindes. Einerseits reguliert sie die Affektzustände des Kindes, andererseits ist die Bindungsperson die sichere Basis. Eine sichere Basis ist notwendig für das Explorationsverhalten (Erkundung der sozialen und physischen Umwelt) des Kindes. Eine Balance zwischen Bindungsverhalten und Explorationsverhalten schafft günstige Bedingungen für die Entwicklung der kognitiven und emotionalen Fähigkeiten sowie für das Kompetenzverhalten im Kindesalter.
In emotional entspannter Situation ist das Bindungsverhalten des Kindes inaktiv und sein Erkundungsverhalten ist aktiv. Infolge von Stress verändern sich diese beiden Systeme hinsichtlich ihrer Aktivität. Dann hört das Kind nämlich auf zu spielen und zu explorieren. Sein Bindungsverhaltenssystem wird aktiv. Je nach den bisherigen Bindungserfahrungen wird das Kind seine Bindungsperson dann als sichere Basis nutzen oder aber versuchen, mit der Stressbelastung alleine fertig zu werden. Abhängig davon, welche Erfahrungen es bereits gemacht hat, wird es Nähe und Kontakt zur Bindungsperson suchen, Nähe und Kontakt vermeiden, oder es verhält sich ambivalent.
Während der frühen Kindheit bestehen normalerweise mehrere Bindungsbeziehungen gleichzeitig. Zu mehreren Personen wird unabhängig voneinander die Bindung organisiert. Ab etwa dem Ende des ersten Lebensjahres werden die Bindungsbeziehungen hierarchisch geordnet. Die Rangordnung wird durch die Menge der interaktiven Erfahrungen mit diesen Personen bestimmt. An oberster Stelle der Hierarchie steht die Person, die die meiste Zeit mit dem Kind verbringt und die meisten interaktiven Erfahrungen macht. Dabei ist die Häufigkeit ausschlaggebender als die Qualität der Interaktionen. Die Qualität der Bindung hängt aber von der Qualität der Interaktionen ab. Sehr wichtig ist die Feinfühligkeit der Hauptbindungsperson. Feinfühligkeit bedeutet, die Signale des Kindes wahrzunehmen, sie richtig zu interpretieren und angemessen, d.h. der Situation entsprechend und das Entwicklungsniveau des Kindes berücksichtigend, und prompt zu reagieren (Ainsworth, 1978).
Hier ist der Zusammenhang einfach: Je häufiger Eltern die Signale des Kindes feinfühlig beantworten, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine sichere Bindungsbeziehung entsteht. Das Temperament des Kindes spielt eine geringere Rolle als die Feinfühligkeit der Erwachsenen oder ihre Fähigkeit zur Selbstreflexion (Fonagy et al. 2004).
Gleiches gilt im Kontakt mit Mitarbeitern: Je häufiger die Führungskraft die privaten oder beruflichen Signale/ Bedürfnisse des Mitarbeiters wahrnimmt und dem Mitarbeiter dies zu verstehen gibt, desto eher entwickelt sich eine sichere Bindung zwischen den beiden. Hier geht es mehr darum, gehört, verstanden und ernst genommen zu werden, als jeden Wunsch erfüllt zu bekommen.
Kinder mit einem „schwierigen“ Temperament oder Kinder, die leicht irritierbar sind, können dennoch eine sichere Bindung zu den Eltern aufbauen. Es gibt keine wissenschaftlichen Hinweise dafür, dass das Temperament des Kindes einen Einfluss auf die Qualität der Bindungsbeziehungen hat. Wenn ein irritierter Säugling mit wenig sozialer Unterstützung seitens der Mutter und anderen negativen Faktoren korrespondiert, ergibt sich eine positive Korrelation zwischen Temperament und Bindungsqualität.
Vaughn und Bost (1999) haben herausgefunden, dass ein schwieriges Temperament und schwierige psychosoziale Bedingungen am Ende des ersten Lebensjahres zu einer eher unsicheren Bindungsbeziehung zu den Eltern führen. Ein Hauptinteresse der empirischen Bindungsforschung bestand darin, wie emotionale Bindungsbeziehungen zu primären Fürsorgepersonen entstehen und wie sie sich in ihrer Qualität unterscheiden. Das Testverfahren der „fremde Situation“ gilt bis heute als das sicherste Instrument zur Diagnose von Bindung im frühen Kindesalter.
Die untersuchte Situation basiert auf acht aufeinanderfolgenden dreiminütigen Episoden, die zwei kurze Trennungen von der Mutter umfassen. Durch den fremden Raum, die Anwesenheit einer fremden Person, sowie die Trennung von der Bindungsperson gerät das Kind unter Stress und das Bindungsverhaltenssystem wird aktiviert.

Im Folgenden wird die „fremde Situation“ dargestellt:

1. Mutter und Kind betreten den Raum.
2. Sie akklimatisieren sich, und das Kind kann den ungewohnten Raum erkunden. Die Mutter soll, außer auf die Signale des Kindes, nicht mit dem Kind interagieren.
3. Eine fremde Person tritt ein und nimmt mit der Mutter und dem Kind Kontakt auf.
4. Die Mutter geht, und die Fremde bleibt mit dem Kind zurück. (Nach drei Minuten oder wenn das Kind verstört reagiert nach 30 Sekunden folgt Phase 5)
5. Die Mutter kehrt zurück, und die Fremde geht. Wenn nötig tröstet sie das Kind.
6. Die Mutter verlässt wieder den Raum, aber das Kind bleibt allein zurück.
7. Die fremde Person kommt hinzu. (Nach maximal drei Minuten folgt Phase 8)
8. Die Mutter erscheint, und die Fremde geht.

 

Die Analyse des kindlichen Verhaltens in den Wiedervereinigungsepisoden (Episoden 5 und 8) gibt die wesentlichen Anhaltspunkte zur Beurteilung der Qualität der Mutter-Kind-Bindungsbeziehung. Es werden vier Verhaltensbereiche beobachtet: die Suche nach Nähe- und Körperkontakt; die Bemühung, den Körperkontakt zu erhalten; Vermeidung der Wiederkehr und der Kontaktangebote der Mutter; Widerstand gegenüber Körperkontakt sowie Interaktionsangeboten der Mutter. Nach der Beurteilung der Verhaltensweisen erfolgt eine Bindungsklassifizierung. Dabei gibt es vier Bindungsklassen:

1. Sicheres Bindungsmuster (Bindungsgruppe B)
2. Unsicher vermeidendes Bindungsmuster (Bindungsgruppe A)
3. Unsicher ambivalentes Bindungsmuster (Bindungsgruppe C)
4. Desorganisiertes/desorientiertes Bindungsmuster (Bindungsgruppe D)
Internationale Studien geben zum Teil unterschiedliche Zahlen, aber die Tendenz ist doch ähnlich: Etwa 65 % der Kinder sind in den ersten zwei Lebensjahren sicher gebunden (B), ca. 25 % unsicher-vermeidend (A), ca. zehn bis 15 % unsicher-ambivalent (C) und ca. zehn bis 25 % unsicher-desorganisiert (D) (Grossmann und Grossmann, 2004).

Sicheres Bindungsmuster (Bindungsgruppe B)

Kinder mit sicherem Bindungsmuster zeigen offenes Bindungsverhalten, und sie drücken ihre Gefühle offen aus. Sie zeigen deutlich ihren Kummer bei der Trennung von der Bindungsperson, aber ebenso deutlich ihre Erleichterung und Freude, wenn die Bindungsperson wiederkommt. Nicht alle sicher gebundenen Kinder reagieren auf die Trennung von der Bindungsperson mit Weinen. Manche hören auf zu explorieren und sind der fremden Person gegenüber zurückhaltend und skeptisch; sie zeigen eindeutig ihre Vorliebe für die Mutter und damit deutliches Bindungsverhalten. Diese Kinder können ihre Bindungsperson als eine sichere Basis nutzen und finden von dort aus schnell ihr inneres Gleichgewicht wieder. Sie erholen sich innerhalb weniger Minuten sowohl physisch wie auch psychisch. Im Laufe des ersten Lebensjahres haben sie die Erfahrung gemacht, dass sie sich auf die Unterstützung der Bindungsperson verlassen können. Sie verfügen über die grundlegende Empfindung innerer Sicherheit und inneren Vertrauens. Sie bewahren auch in einer schwierigen Lebenssituation eine positive Lebenshaltung (Hédervári-Heller, 2012).

Unsicher vermeidendes Bindungsmuster (Bindungsgruppe A)

Diese Kinder zeigen in einer Stresssituation kein offenes Bindungsverhalten, sie vermeiden Nähe und Kontakt zu einer Bindungsperson und drücken ihre Gefühle nicht offen aus. In einer Trennungssituation weinen sie kaum und zeigen insgesamt mehr Interesse für die fremde Person als für die Mutter. Sie haben gelernt, emotional belastende Situationen aus eigener Kraft zu „bewältigen“. Vermeidungsverhalten dient diesen Kindern als wichtige Abwehrmaßnahme, um einer eventuellen Zurückweisung durch die Bindungsperson zu entgehen. Main (1982) nennt diese Verhaltensstrategie „Vermeidung im Dienste der Nähe“. Bindungsunsichere Kinder müssen Kompromisse finden, wie sie ihr Bedürfnis nach Schutz, nach Sicherheit und den Ausdruck von Gefühlen organisieren. Entscheidend jedoch ist, dass unsicher gebundene Kinder gelernt haben: Wenn ich mein „wahres Selbst“ (Winnicott, 1965) zeige, dann führt das zur Ablehnung seitens der Bindungsperson; deshalb konstruiere ich ein „falsches Selbst“. Bindungspersonen von Kindern mit einem unsicher vermeidenden Bindungsmuster weisen deren Wünsche nach Nähe und Trost häufig zurück, sind offen feindselig gegenüber Kontaktbedürfnissen des Kindes eingestellt, oder aber sie verhalten sich oft intrusiv (beanspruchen Nähe, ohne das Bedürfnis des Kindes zu berücksichtigen), über- oder unterstimulierend. Insgesamt sind sie weniger feinfühlig gegenüber den Signalen des Kindes (Hédervári-Heller, 2012).

Unsicher ambivalentes Bindungsmuster (Bindungsgruppe C)

Sie verhalten sich in Stresssituationen widersprüchlich. Einerseits haben sie den Wunsch nach Nähe und Kontakt zur Bindungsperson, andererseits reagieren sie mit ärgerlicher Zurückweisung,
wehren sich gegen einen Kontakt oder weisen auch angebotene Spielsachen zurück. Diese Kinder lassen sich nur schwer beruhigen und sind insgesamt offen ärgerlich oder quengelig, manche sind passiv und wirken depressiv. Die Bindungspersonen dieser Kinder verhalten sich ebenfalls ambivalent dem Kind gegenüber. Sie reagieren mal feinfühlig auf die Signale und Kontaktbedürfnisse des Kindes, mal aber feindselig oder zurückweisend (Hédervári-Heller, 2012).

Desorganisiertes/desorientiertes Bindungsmuster (Bindungsgruppe D)

Im Gegensatz zu den Bindungsgruppen A und C haben diese Kinder keine Verhaltensstrategie im Umgang mit Trennungsepisoden. Sie verfügen über kein organisiertes Bindungsverhalten und sind unsicher, ob die Bindungsperson erreichbar und emotional verfügbar ist. In emotional belastenden Situationen kommt es zu einem Zusammenbruch der Verhaltens- und Aufmerksamkeitsstrategie des Kindes. Dies kann sich in stereotypem Verhalten, im Bewegungserstarren oder in tranceähnlichen Zuständen äußern. Diese Symptombeschreibung wird in der klinischen Psychologie auch „Dissoziation“ genannt.

Ein Großteil von misshandelten, sexuell missbrauchten und vernachlässigten Kindern gehört dieser Bindungsgruppe an (Dornes, 1997).
Das desorganisierte Bindungsverhalten muss nicht in jedem Fall ein Ergebnis traumatischer Erfahrungen sein, sondern kann auch im Zusammenhang mit unbewältigten Verlusten und traumatischen Erfahrungen der Bindungsperson auftreten – mit traumatischen Erfahrungen, die sogar auf frühere Generationen (z.B. nicht verarbeitete Kriegserlebnisse der Großeltern, hierzu die Arbeiten von F. Ruppert) zurückgehen können. Der desorganisierte Bindungsstatus bedeutet noch keine Psychopathologie, jedoch stellt er einen Risikofaktor für eine gesunde seelische Entwicklung im Kindesalter und ein Grenzfall zur klinischen Bindungsstörung dar (Hédervári-Heller, 2012).
Die Erfahrungen eines Kindes mit der Bindungsperson bleiben auch im Erwachsenenalter mitunter deutlich wahrnehmbar. Gerade Menschen, die ein sicheres Bindungsmuster (B) aufgebaut haben, sind durch die Verhaltensweisen der anderen Gruppen irritiert. Wie oben an dem Beispiel von David S. deutlich wurde, waren seine Kollegen mit sicherem Bindungsmuster überrascht, wieso sich David S. denn so unsozial verhalten könne.
Damit kommt es auch in der Arbeitswelt zu Konflikten – sowohl zwischen Kollegen als auch im Verhältnis Führungskraft zu MitarbeiterIn. Besonders problematisch wird es, wenn bei der Personalauswahl unbewusst Personen mit einem unsicheren Bindungsmuster ausgewählt wurden und diese dann die positive Atmosphäre in einer Abteilung destabilisieren. MitarbeiterInnen mit einem sicheren Bindungsmuster werden in diesem Fall nach einer Arbeitsstelle in einer anderen Abteilung – schlimmer noch – in einem anderen Unternehmen suchen. Damit verfestigt sich die mangelnde soziale Kompetenz in der ursprünglichen Abteilung.
Es lohnt sich also auch bei Erwachsenen, nach den Symptomen von verschiedenen Bindungstypen zu schauen, um diese Phänomene besser zuordnen zu können.

Bindungstypen im Erwachsenenalter

Wie in der Kindheit lassen sich auch im Erwachsenenalter Bindungstypen klassifizieren. Natürlich sind die Fälle selten, in denen ein Mensch eindeutig und zweifelsfrei einem Bindungstyp zugeordnet werden kann. Daher sind die dargestellten „Typen“ eher als Symptomcluster zu verstehen. Ein Individuum kann verschiedene Aspekte verschiedener Cluster in sich vereinigen. Dabei dominiert auf der individuellen Ebene das eine oder andere Muster. Es ergeben sich nun drei organisierte und ein nicht organisierter Bindungsstatus. Die Bindungsmuster entsprechen den drei Kategorien; F = „sicher-autonom“ , D = „unsicher-distanziert“, E = „unsicher-verstrickt“ und U = „unverarbeitet“.

(F) „Autonomes/sicheres Bindungsmodell“ (45-55%)

Diese Erwachsenen haben gute, lebhafte Erinnerungen an Kindheitserfahrungen und Zugang zu ihren Gefühlen. Relevante Bindungserfahrungen werden als wichtig eingeschätzt und wertgeschätzt. Sie können offen und frei über widersprüchliche und unangenehme Gefühle zu den Bindungspersonen ihrer Kindheit berichten. Sie vermitteln ein kohärentes Bild von sowohl positiven als auch negativen frühkindlichen Erfahrungen.

Modell mit unsicher-distanzierter/abweisender Bindung (20-25%)

Diese Erwachsenen haben wenige oder nur vage Erinnerungen an beziehungsrelevante Themen in der Kindheit. Trotz Erfahrung von Zurückweisung zeigen sie positive oder idealisierte Elternbilder, ohne konkrete Erfahrungen zu nennen. Erinnerungen aus der Kindheit sind häufig widersprüchlich. Bindungsrelevante Erfahrungen werden gering geschätzt und als nicht einflussreich bewertet. Diese Personen betonen bei diesem Thema ihre eigene Stärke, Leistung und Unabhängigkeit.

(E) Modell mit „unsicher-verstrickter“ Bindung

Diese Erwachsenen berichten unzusammenhängend, widersprüchlich, sehr subjektiv und ausschweifend über ihre Erfahrungen mit den Eltern in der Kindheit. Negative Erfahrungen in der Beziehung zu den Eltern werden überbewertet. Sie sind sehr emotional, oft ängstlich oder ärgerlich. Auch im Erwachsenenalter sind sie in Bindungskonflikte verstrickt, was sich an der auffällig starken Beschäftigung mit den Eltern ablesen lässt.

(U) Nicht organisierter „unverarbeiteter Bindungsstatus“

Insbesondere bei Themen, die traumatische Ereignisse (Verlust einer wichtigen Person durch den Tod, körperlicher Missbrauch) sind diese Personen mental desorganisiert und desorientiert. Dies zeigt sich in einem hohen Grade verbaler und gedanklicher Inkohärenz. Erzählungen hiervon sind voller Angst oder irrationaler Anteile, wie z. B. das Gefühl, den Tod einer Bindungsperson verschuldet zu haben. Erwachsene mit einem „unverarbeiteten Bindungsstatus“ stammen entweder aus Risikofamilien und haben Misshandlung, Missbrauch oder Verwahrlosung erlebt, oder sie stammen aus intakten Familien, tragen jedoch ein unverarbeitetes Trauma in sich (Hédervári-Heller, 2012).
Diese vier Bindungsmodelle werden durch ein spezielles klinisches Interviewverfahren aktiviert und erhoben. Außerhalb dieser Untersuchungssituation werden diese Personen aufgrund ihres Bindungsstatus keine irrationalen oder desorganisierten Denkweisen zeigen. Diese Reaktion zeigen sich hauptsächlich bei dem Thema der Bindung und den Bindungserfahrungen in der Kindheit.
Forschungen zeigen, dass es für die Bindungsorganisation ausschlaggebender ist, wie die Person über die frühen Erfahrungen denkt, als das, was sie in der Kindheit erlebt hat. Steele et al. (1991) untersuchten Frauen in der zweiten Woche ihrer Schwangerschaft bzgl. ihrer Bindungsrepäsentanz. Ein Jahr nach der Geburt der Kinder wurde in der „fremden Situation“ das Bindungsmuster der Kinder durch unabhängige Beobachter klassifiziert. Die Forscher konnten mit einer 70 bis 75-prozentigen Sicherheit vorhersagen, welche Bindungsqualität das noch ungeborene Kind zu seiner Mutter entwickeln werde. Diese und andere Studien stützen die Annahme der generationsübergreifenden Bedeutung von Bindungserfahrungen. Die Weitergabe von Bindungsmustern ist schließlich Teil des Sozialisationsprozesses.
Ein Unternehmen oder eine Branche kann sich also nicht losgelöst von seiner Umgebung und Klientel wahrnehmen. Wenn in einem hohen Maße Mitarbeiter aus Risikofamilien rekrutiert werden, dann sollten die Personalverantwortlichen geeignete Wege finden, um auf die Problematik einer nicht voll ausgereiften Bindungsfähigkeit eingehen zu können. Führungskräfte sollten auf diesen Aspekt ihrer Aufgabe gut vorbereitet werden. Wenn ein Unternehmen ein langfristiges Engagement in einer solchen Region plant, ist es sicher sinnvoll, bereits in Kindergärten und Schulen bindungsstabilisierende Projekte zu unterstützen. Die gesamtgesellschaftliche Entwicklung in Deutschland lässt die Bedeutung dieses Themas in Zukunft eher steigen.Wie wirken sich frühe Bindungserfahrungen auf die spätere Entwicklung aus?

Wie wirken sich frühe Bindungserfahrungen auf die spätere Entwicklung aus?

Mögliche Veränderungen der Bindungsmuster im Säuglingsalter hängen ab von der Flexibilität der „inneren Arbeitsmodelle“ (Bowlby 1969, 1988) sowie von der Entwicklung der mütterlichen Feinfühligkeit (Hédervári, 1995). Durch positive neue Beziehungserfahrungen sind Arbeitsmodelle sogar noch im Erwachsenenalter beeinflussbar. Veränderte Lebensumstände und Psychotherapie ermöglichen eine Neustrukturierung der Bindungsorganisation im Kindes- und im Erwachsenenalter. So kann unter günstigen Bedingungen ein unsicheres Bindungsmuster durch ein…

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Jabin Kanczok

Jabin Kanczok ist klinischer Psychologe. Neben der klinischen Tätigkeit (Forensik und Psychiatrie) arbeitet er als Lehrbeauftragter an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel am Lehrstuhl für Allgemeine und Biologische Psychologie und ist somit an der Studentenausbildung beteiligt.
Nach Studien zu Gedächtnisprozessen der Musterunterscheidung (pattern separation und pattern completion), promoviert er nun bzgl. Kränkung und Posttraumatischer Verbitterungsstörung (PTED) und deren Therapie.